Jens Fuhl macht sich Gedanken über die Grenzen der Frühförderung

Fast jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im August macht sich Jens Fuhl vom Verein Lebenshilfe Rhön-Grabfeld Gedanken über Herausforderungen für Kleinkinder und die Grenzen der Frühförderung.

Der Verein Lebenshilfe Rhön-Grabfeld fördert Kleinkinder bis zum Vorschulalter schon seit über 50 Jahren, zum Beispiel durch Logopädie, Ergotherapie oder Physiotherapie (© Foto: Lebenshilfe Rhön-Grabfeld e.V.)

Die Schattenseiten der gesellschaftlichen Entwicklung: Herausforderungen für Kleinkinder und die Grenzen der Frühförderung

In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht rasant verändert. Technologischer Fortschritt, soziale Veränderungen und wirtschaftlicher Druck beeinflussen das Umfeld, in dem Kleinkinder aufwachsen. Während diese Entwicklungen zahlreiche Chancen bieten, sind sie gleichzeitig mit erheblichen Risiken verbunden, die sowohl die kognitive als auch die motorische Entwicklung unserer jüngsten Generation nachhaltig beeinträchtigen können.

Negative Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf Kleinkinder
Ein zentrales Problem ist die zunehmende Vereinzelung und soziale Isolation. In einer Welt, die immer stärker von digitalen Medien geprägt ist, verbringen Kinder oft mehr Zeit vor Bildschirmen als im direkten Kontakt mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen. Dies kann die soziale Kompetenz, Empathie und Kommunikationsfähigkeit einschränken. Eine besonders große Gefahr birgt der wachsende Digitalkonsum bereits im frühen Kindesalter.

Viele digitale Spiele bzw. Anwendungen mit denen sich Kinder immer früher am Tablet oder am Handy beschäftigen, sorgen für einen Abbau der Konzentrationsfähigkeit. Bei TikTok und Instagram gibt es oft kurze Videos oder Bilder, die schnell wechseln. Das ständige Scrollen und die schnellen Reize können dazu führen, dass das Gehirn sich an schnelle Abläufe gewöhnt und Schwierigkeiten hat, sich längere Zeit auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Es wird fast so, als würde das Gehirn immer wieder auf einen neuen Reiz springen, was die Aufmerksamkeitsspanne verkürzen kann.

Die Plattformen sind voll mit bunten, bewegten und oft auch lauten Inhalten. Diese Reizüberflutungen können das Gehirn überfordern und dazu führen, dass man sich schwerer auf eine Sache fokussieren kann, weil die Aufmerksamkeit ständig durch neue Eindrücke abgelenkt wird.

Das ständige „Schnell-Belohnung“-Prinzip, das bei kurzen Videos und Likes zum Einsatz kommt, aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn. Das kann dazu führen, dass man immer wieder nach neuen Reizen sucht, weil das Glücksgefühl durch Likes oder kurze Unterhaltung schnell wiederkehrt. Das erschwert es, sich längere Zeit auf eine Aufgabe zu konzentrieren, weil das Gehirn nach sofortiger Befriedigung sucht. Die Folge ist dann ein Verlust an Geduld und Ausdauer. Das kann sich negativ auf Lernen, Arbeit oder andere Aktivitäten auswirken.

Insgesamt können TikTok und Instagram durch die schnellen, reizintensiven Inhalte und die ständige Ablenkung die Fähigkeit beeinträchtigen, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren. Deshalb ist es wichtig, bewusste Pausen einzulegen und den Medienkonsum zu kontrollieren, um die Konzentrationsfähigkeit zu schützen.

Für Kinder mit körperlichen, geistigen, sprachlichen sowie seelischen Behinderungen ist Frühförderung elementar wichtig (© Foto: Lebenshilfe Rhön-Grabfeld e.V.)

Bewegungsmangel führt dazu, dass Kleinkinder motorische Fähigkeiten wie Laufen, Klettern oder Feinmotorik weniger gut entwickeln. Außerdem ist Bewegung wichtig für die Stärkung der Muskulatur und Knochen, die Koordination und das Gleichgewicht. Immer häufiger kann man beobachten, dass sich Kinder als Folge auf unebenem Gelände nur noch sehr unsicher bewegen können. Zudem fördert Bewegung die sensorische Integration und die Wahrnehmung, was für die gesamte Entwicklung sehr wichtig ist.

Negative Auswirkungen von zu wenig Kommunikation und fehlender Bindung
Kommunikation ist die Grundlage für soziale und emotionale Entwicklung. Wenn Kleinkinder wenig Gelegenheit haben, sich auszutauschen, können sie Schwierigkeiten entwickeln, ihre Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken. Das kann sich auf ihre Sprachentwicklung auswirken, sodass sie später weniger Wörter kennen oder Schwierigkeiten beim Sprechen haben. Außerdem lernen Kinder durch Gespräche und Interaktionen, soziale Regeln, Empathie und Konfliktlösung. Fehlt diese Kommunikation, kann das ihre Fähigkeit beeinträchtigen, Beziehungen aufzubauen und sich in sozialen Situationen zurechtzufinden. Zudem führt der zunehmende Leistungsdruck in Familien und Gesellschaft dazu, dass Eltern oft wenig Zeit und Energie für eine liebevolle und stabile Bindung zu ihren Kindern haben. Diese Bindung ist jedoch grundlegend für die emotionale Entwicklung und das Sicherheitsgefühl der Kinder. Ein weiterer Aspekt ist die wachsende soziale Ungleichheit. Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen haben häufig weniger Zugang zu qualitativ hochwertigen Förderangeboten, Bildung und sicheren Lebensumständen. Dies kann langfristig ihre Entwicklungschancen erheblich beeinträchtigen und soziale Benachteiligung verstärken.

Grenzen der Frühförderung
Frühförderung gilt als ein wichtiges Instrument, um Entwicklungsdefizite frühzeitig zu erkennen und auszugleichen. Sie kann dazu beitragen, soziale, emotionale, kognitive und motorische Fähigkeiten zu stärken. Doch ihre Wirksamkeit ist nicht unbegrenzt. Die Qualität und Zugänglichkeit der Frühförderung variieren stark, und nicht alle Kinder profitieren gleichermaßen. Zudem ist Frühförderung kein Allheilmittel: Sie kann nur dann wirksam sein, wenn die grundlegenden gesellschaftlichen Bedingungen stimmen. Wenn Kinder in einem Umfeld aufwachsen, das von Unsicherheit, Vernachlässigung oder Überforderung geprägt ist, kann Frühförderung nur begrenzt positive Effekte erzielen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Frühförderung als Ersatz für Verantwortung der Eltern und der Gesellschaft gesehen wird. Es ist wichtig, die genannten Ursachen der beschriebenen gesellschaftlichen Probleme anzugehen – etwa Armut, soziale Ausgrenzung oder unzureichende Betreuungsstrukturen – anstatt ausschließlich auf individuelle Fördermaßnahmen zu setzen.

Im unterfränkischen Bad Neustadt wird das ehemalige Zollamt von der Lebenshilfe Rhön-Grabfeld mithilfe von Sternstunden zur Frühförderstelle umgebaut.  (© Foto: Lebenshilfe Rhön-Grabfeld e.V.)

Um den Herausforderungen gerecht zu werden, sind umfassende Anpassungen in der Förderung von Kleinkindern notwendig:

Elternbildung und Unterstützung
Eltern benötigen gezielte Angebote, um ihre Erziehungskompetenzen zu stärken. Das umfasst Informationen über kindliche Entwicklung, den Umgang mit digitalen Medien und Strategien für eine liebevolle Bindung. Ganz wichtig ist dabei aus meiner Sicht, dass man sich bewusst macht, dass jedes Kind seine individuelle Entwicklungsgeschwindigkeit hat. Aus eigener Erfahrung weiß ich leider, wie schnell man sein Kind mit gleichaltrigen Kindern vergleicht und dann grübelt, warum andere Kinder schon Dinge können, die das eigene noch nicht schafft. Hier sollte man sich und dem Kind die notwendige Zeit geben.

Zeit und Aufmerksamkeit:
Zum einen sollten gesellschaftliche Rahmenbedingungen so gestaltet sein, dass Eltern mehr Zeit für ihre Kinder haben. Zum anderen müssen auch die Eltern wieder mehr in die Verantwortung genommen werden. Es ist auf den ersten Blick anstrengender einem Kind etwas vorzulesen als es vor den Fernseher zu setzen. Letztendlich ist die Vorlesezeit aber die echte „Qualitytime,“ von der die Eltern und das Kind gleichermaßen profitieren. 

Stärkung der emotionalen Bindung
Eltern sollten ermutigt werden, aktiv Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, um eine sichere Bindung aufzubauen, die die Grundlage für alle weiteren Entwicklungsbereiche bildet.

Qualitative Verbesserung und Ausbau
Frühförderangebote müssen flächendeckend, qualitativ hochwertig und auf die sich verändernden individuellen Bedürfnisse der Kinder abgestimmt sein. 

Um den Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung wirksam zu begegnen, ist es unerlässlich, sowohl die Rahmenbedingungen für Familien zu verbessern als auch frühzeitig in die ganzheitliche Förderung und Unterstützung unserer Kleinkinder zu investieren, denn unsere Kinder sind unsere Zukunft!

Jens Fuhl ist Geschäftsführer der Lebenshilfe Rhön-Grabfeld e.V.  (© Foto: Privat)

Meldung erstellt am: 11. Juli 2025